Noch eine kleine Explosion

Rod saß im Hawaiihemd auf seinem riesigen gelben Schalenkoffer mitten im Entrée des Hotels Les Bains d’Arguin, was fürchterlich läppisch aussah. Die schicken französischen Gäste umrundeten ihn mit missbilligenden Blicken.

Was machst du da mit dem Koffer, Rod, bist du verrückt? Joy kam gerade von ihrer morgendlichen Shoppingtour durch Arcachon zurück.

Es geht heimwärts, Prinzessin.

Heimwärts? Wir haben uns doch erst gerade so richtig eingelebt. Was soll das, Rod? Gefällt’s dir nicht mehr hier? Die Schnauze voll vom Segeln? Die letzte Frage mit einem unterdrückten Lächeln…

Nun ja, gestern vollführten die beiden eine Patenthalse. Und Rod wurde vom Großbaum über Bord gefegt. Zum Glück war’s etwas flau und der Baum somit nicht in tödlicher Fahrt. Aber es dauerte ein Weilchen, bis die grazile Joy den fetten und benommenen Rod aus dem Atlantik zu fischen vermochte.

Hab‘ ich dir nicht gesagt, bei raumem Wind sollst du verdammt noch mal den Baum im Auge behalten?

Er hatte mich im Auge, so war’s halt. Und dann zischte er sich ein tschechisches Dosenbier rein. Und noch eins und noch eins. Aber alkoholfrei.

Und nun saß er da mit blauem Auge auf gepacktem Koffer, der sich unter seinem Gewicht gefährlich in die Breite wölbte. Wenn es längst als wissenschaftlich erwiesen galt, dass die Unfallpersönlichkeit nicht existierte, Rod war dennoch ganz klar eine solche. Überall wo was schiefgehen konnte, hatte Rod seine feisten Finger im Spiel.

Prinzessin, sei so lieb und pack deine sieben Sachen. Wir müssen. Ich kümmere mich um die Hotelrechnung.

Aber Pummelchen. Jetzt gib mir erst einen vernünftigen Grund! Mir gefällt’s hier. Komm, Rödele. Wir legen heute einen segelfreien Tag ein, damit sich dein Brummschädel erholt und ab morgen heißt’s wieder: Schiff ahoi!

Du weißt, Prinzessin, wir sind nicht frei in unseren Entscheidungen. Die Autopoietiker haben uns an der Leine. Und Tom schreibt uns die Heimreise vor.

Tom? Na warte. Ich ruf‘ den gleich an und geig‘ ihm die Meinung. Joy zückte tatsächlich ihr iDingens und wählte Toms Nummer. Doch da war keiner.

Autopoietiker. Wenn ich das schon höre. Die sind doch voll in der Krise. Was wollen diese Knalltüten unsern Urlaub bestimmen? Rod, das kannst du dir nicht gefallen lassen. Sei mal Manns genug und wehr‘ dich!

Ja, wie denn?! rief er verzweifelt und dabei hopste er auf seinem Koffer kurz auf und ab. Ein bisschen zu heftig dann. Denn jetzt tat es einen lauten Knall. Der Schalenkoffer, der eigentlich als garantiert unzerstörbar galt, zerbarst und Rods schmutzige Wäsche, seine bunte Reiseliteratur, sein Rasierzeug, sein iDingens und alle seine Karten und Seekarten und…, kurz der ganze Inhalt verteilte sich in der Hotelhalle. Rod fiel rücklings zu Boden und renkte sich die linke Schulter aus.

Du meine Güte, murmelte Joy und alle Augen richteten sich auf das bizarre Paar aus Berlin.

Halbzeitpfiff

„Ich habe keine Lust mehr, mich von 60000 Fans auspfeifen, anpöbeln, beschimpfen und beleidige zu lassen“ brüllt blogo in der Kabine. Der Mann mit der Nummer 18 der sonst perfekt deutsch sprechen und schreiben kann. Frustriert hocken sie verschwitzt und schnaufend auf den Bänken. Die Nummer 9, Tom der während der Trainigspausen am liebsten Liebesgeschichten schrieb. Und phorky, die Nummer 38. Er, der immer für ein attraktives Spiel sorgte und seine Inspiration mit dem schreiben von Bedienungsanleitungen erlangte. Mete hörte man wie verrückt gegen die Klowände trommeln. „Der Clooney klaut mir ständig die Bälle“, schrie er. Mete der im heutigen Spiel, wo es um alles ging, Merkwürdigkeiten im Strafraum produzierte. „Jungs“ brüllte Skipp die Trainerin, “ euer Diskussionsbedarf hängt mir zum Hals raus. Ihr seid die schlimmste Gurkentruppe die mir in meiner bisherigen Trainerlaufbahn in die Quere gekommen ist. Ich habe internationale Clubs trainiert. Und ihr seid nicht in der Lage ein munteres Spielchen zu spielen? Ich kanns nicht sehen, wie Tom da aus dem Abseits geschlendert kommt. Und du, Phorky, die Presseleute beobachten dich. Alle Kameras sind auf dich gerichtet und dir fällt nichts besseres ein, als dich auf dem Platz selbst zu ermahnen und mit dir selber zu sprechen. Ich fasse es nicht. Blogo, du unterstützt den mete und nimmst ihm den Druck von der Schulter. Das Tor schießt heute mal Phorky. Denke dran Phorky, dass die da hinten auch ein Keeper drinne haben. Mete, versuche endlich mal nicht andauernd die eigenen Leute abzuschießen. Und wenn ihr eine Kontermöglichkeit habt, dann bringt wenigstens auch die Flanke.“ Skipp war am Ende mit ihrer Halbzeitrede. Die Jungs hatten sich so einigermaßen erholt. „Achtet auf eure Defensivarbeit und jetzt raus hier. Ich will Tore sehen“, brüllt Skipp. Draußen schrien 60000 Fans —- OLE, OLE, OLEEEEE. OLE, OLE, OLAAAAAA…..FC POIETIKER. WIR SIND IMMER FÜR EUCH DAAAAAA.

Ein Thema, sagte ich …

… wir brauchen ein Thema, Alexander Kluge! Bitte!
Ich hab da was. Alexander Kluge öffnete seine Aktentasche. Er wischte sich währenddessen ununterbrochen mit der Serviette übers Revers. Das hat mir heute früh in Berlin Durs Grünbein zugesteckt, es ist das Exposé eines Romans, den ein gänzlich Unbekannter geschrieben hat, übrigens ebenfalls in Berlin.
Ich sagte: Ah, ja — ?
Hier, sehen Sie. Ein Investmentbanker, hat groß abgesahnt in den letzten Jahren. Jetzt stellt sich heraus: Er hat Magenkrebs. Lange hat er nicht mehr. Will er den Kampf aufnehmen? Sein erster Impuls: nein. Das Leben war fies genug, jetzt muss ich mich nicht auch noch bestrahlen lassen.
Aha, sagte ich.
Er verzichtet auf den Kampf ums Dasein. Stattdessen will er seinen Frieden mit seiner Familie machen. Der Vater, ein harter Hund, hoher Manager bei Mercedes-Benz. Kaltblütig, um das Mindeste zu sagen.
Und die Mutter?
Ein Eiszapfen aus Riga. Alexander Kluge grinste. Scherz beiseite. Wirklich ist sie so ein blonder Hohlkörper aus dem Norden, studierte Zahnärztin, die aber nie professionell einen Mund geöffnet hat. Für die war das nur das Sprungbrett auf die Karriereleiter.
Wo sie sich an ihrem Mann festgekrallt hat?
Sie gefallen mir, Herr Macha, sagte Alexander Kluge und lachte. Sie müssen unbedingt mal bei mir zum Interview vorbeikommen … wie sieht es morgen bei Ihnen aus?
Und das alles vor dem Hintergrund der Griechenland-, Spanien-, Portugal- und Euro-Krise? Vor gesamteuropäischer Kulisse? Zwischen Blitzlichtgewitter an der Croisette und Kohleofen in Dessau? Und, warten Sie. Ich sprang auf vor Begeisterung. Jetzt seh ich es! Unser Held beschließt, ein Enthüllungsbuch zu schreiben! Die ganzen Schweinereien offenzulegen! Auszupacken!
Sich unablässig mit der Serviette das von Salatsauce befleckte Jackettrevers wischend, hatte Alexander Kluge seinen Terminkalender hervorgekramt. Umständlich nestelte er ihn auf, eine Fülle von Notizzetteln und Post-its fiel dabei heraus.
Nein, warten Sie, sagte er, die Zeigefingerspitze über die Spalten schiebend, das geht leider nicht, morgen habe ich die Coen-Brüder zu Gast …
Es ist so eine Art Abrechnungsstory, oder? Der Einbruch der antiken Tragödie ins Börsencrashtrhrillergenre?
Ich sagte: Wow! und setzte mich.
Die TITANIC, sagte Alexander Kluge. Wir schreiben wieder das Jahr 1912. Die Zeiten wiederholen sich. Nietzsche. Und McLuhan! Sehen Sie diesen Investmentbanker als Sonde, die wir in ein unbekanntes Kälteuniversum schicken. Von dort funkt er Daten, die wir, sie auswertend, zu einem Weltbild formen können. Was können wir daraus lernen über den Zustand unserer Welt? Nur so interessiert mich Literatur.
Ja, ja, ja, sagte ich. Das könnte gehen …
Tod, Familie, Weltverhängnis, sagte Alexander Kluge. Wenn Sie den Vatikan hineinverwursten möchten, wie es dieser Berliner Nachwuchsschreiberling getan hat – nur zu!
Ein geheimer Orden! Wie wäre das?
Wer hat eigentlich das Geld erfunden? Und wozu? Lesen Sie die Geschichte des Geldes als Geschichte der Entwicklung vom Realismus zum Idealismus! Alexander Kluge zog ein grünes Suhrkamp-Bändchen aus seiner Aktentasche. Hier, Jochen Hörisch, können Sie haben. KOPF ODER ZAHL. DIE POESIE DES GELDES. Jede Menge Anregungen.
Auch Scorsese und DiCaprio wollen einen Wall-Street-Film machen …
Sehen Sie? WALL STREET, überhaupt. Der Film hat die Neunziger erfunden, sagte Alexander Kluge. Er sah auf. Lächelte. Wischte an seinem Revers herum. Gier ist gut. Geiz ist geil.
Oliver Stone, flüsterte ich.
Haben Sie mal über diesen Namen nachgedacht? Wall und Street. Mauer und Straße. Eigentlich ein Oxymoron, ja, ein Paradox.
Ich nickte. Ich dachte nach. Ich fragte: Und wie soll dieser Investmentbanker heißen?
Tja … Alexander Kluge schlug das ihm von Durs Grünbein ausgehändigte Manuskript, das er später seinem Lektor im Suhrkamp Verlag vorlegen würde, auf und blätterte. Bei diesem Autor hier heißt der Mann: „Tom Brunello“.
Find ich nicht übel, sagte ich.
Nein, ich auch nicht, sagte Alexander Kluge.
Und dann stieß ich das nächste Pils um.

In Gefahr und großer Not bringt der Mittelpunkt den Tod

Alexander Kluge sah auf den ersten Blick, wohin die Reise bei den Autopoietikern gehen müsste. Mit Bob Macha auf der Dachterrasse des Hotel Atlantic, das Jackettrevers mit Salatsoße befleckt, zu allem Überfluss hatte Macha in einem weiteren Moment der Unachtsamkeit noch ein Pils umgestoßen. Das alles aber schärfte eher noch des großen alten Mannes Wahrnehmung. Unverkennbar korreliere die autopoietische Krisis mit der Krise der europäischen Finanz- und Währungsverhältnisse. Zwei Systeme, die in der eigenen Selbstverkreislaufung heiß liefen. Einerseits gewaltige Ansprüche und Erwartungen, andererseits nur Wasser, das man in Durchlauferhitzung wieder und wieder aufkocht.
Was vor allem fehlt, sagte Alexander Kluge, ist ein Thema, an dem ihr euch abarbeiten könnt!
Ihn erinnerte das alles spontan an seinen Kracher von damals, SCHLACHTBESCHREIBUNG: Die Katastrophe Stalingrad auffächern, aus der Not, das alles glaubwürdig more Tolstoi nicht mehr erzählen zu können, die Tugend machen, die in einer Verpflichtung auf Vielstimmigkeit, Polyfokalität, Multiperspektivik liegt. Das war damals sein Verfahren, das war damals die Rettung. Damit konnte er sich auch aus der Sackgasse befreien, in der die Literatur nach Proust, nach Thomas Mann gelandet war.
Damals war das 19. Jahrhundert unwiderruflich vorbei; Gleiches galt nun auch für das 20.
Also, sagte Alexander Kluge, geben Sie dem Orchester den Raum, den es braucht. Wenn der MANN OHNE EIGENSCHAFTEN nicht mehr geht, gehen immer noch die EIGENSCHAFTEN OHNE MANN. Die Wahrheit liegt heute außerhalb des Zentrums, oder sagen wir so: Die Wahrheit ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall liegt, dessen Umfang jedoch erst noch zu bestimmen wäre.
Und unsere Aufgabe, fragte Bob Macha, läge also darin, diese Umfangsbestimmung vorzunehmen?
Klar, sagte Alexander Kluge und stopfte sich eine Gabel voll Salat in den Mund. Kauend: Tom sollte von seinem hortus conclusus aus eine PHILOSOPHIE DES GELDES mit den Mitteln der Narration schaffen. Eine Art ILIAS der globalen Kapitalströme. Phorky sollte die Auswirkungen der Krise aus der Sicht der von ihr zuvörderst Betroffenen schildern: GROSSE ERWARTUNGEN, KLEINE ERTRÄGE, ein MINIMA MORALIA der „liquid modernity“, an WOYZECK eher orientiert als an einer Philosophie der strengeren Observanz. mete, mit seinen präzisen Beobachtungen, aphoristisch verdichtet, untersucht, inwiefern es sich bei der Finanzkrise um eine Vertauschung von Ornament und Substanz handelt. Man nimmt, was eigentlich nur Locke, gedreht auf Glatze, ist, nämlich das Geld, das Ungreifbare, dieses nicht nur flüchtige, sondern streng genommen fiktive Element, als substantiell. Man dichtet dem Geld eine Essenz an, sieht in ihm sogar die Quintessenz. Als wäre es ein rationaler Akt, den leeren Versprechungen von moralisch zwielichtigen Fremden aus Tokio und New York unbedingtes Vertrauen zu schenken. Frau Ohneeinander, die klassische erzählerische Stimme. Vielfach kommentierend, vielfach mahnend und warnend, reflektiert sie all dies in gelegentlichen Zwischenrufen, gewissermaßen von der Trainerbank aus, wenn Sie, schloss Alexander Kluge, mir dieses Herbeizitieren der Fußballmetaphorik noch einmal durchgehen lassen.
Nein, sagte Bob Macha dazu nur. Aber Ihre Idee finde ich nicht schlecht.
Zum Glück ist es ein dunkles Jackett, sagte Alexander Kluge. Da fällt der Fleck gar nicht auf, oder was meinen Sie? Ich treff nämlich gleich noch den Matthias Matussek.

Inventur

Dies ist mein Avatar,
dies ist meine Gezwitscher,
hier meine digitale Haut
in einer Wolke aus Links.

Schwarzpulverrückstände:
Mein Go-Brett, meine Steine,
ich habe die letzte
Stellung mir genau eingeprägt.

Kostbare Züge und Gedanken,
die vor elektromagnetischen,
oder anderen begehrlichen
Lauschern ich verberge.

In den Kommentaren
sind manche Ideen
und einige Anspielungen,
die ich niemandem verrate,

sie bilden die Spielwiese,
Saat für neue Ideen.
Keine Wand mehr trennt
vom gemeinenden Publikum.

Diese Software
lieb ich am meisten:
Tagsüber versemmelt sie Content,
den nachts ich ganz anders erträumt.

Dies ist mein Blog,
dies ist mein Occupy-Zelt ,
dies ist mein iDings,
dies ist mein Hirn.

Schlussklappe!

Es reicht, Freunde! 112 Beiträge von 5 namhaften Autoren bzw. 4 und einer ebensolchen Autorin mit einem fantastischen Finale. Wie haben wir mitgefiebert, aber es war nicht umsonst. Die Bombe hat alle bisherigen filmisch festgehaltenen Explosionen getoppt. Jegliches Warum? wurde von ihr zerfetzt. Ich hätte nicht gedacht, dass wir einen solchen Erfolg würden je feiern können. Apokalypse Now („I love the smell of napalm in the morning […] Smells like – victory.“) sieht im Vergleich dazu aus, wie ein verkrampftes Schulbubenvideo.

Gut, das Ganze geht jetzt ab in den Druck und in 107 Tagen, rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse kommt der Megaseller auf den Markt. Zwischen zwei echten Pappdeckeln funkelt auf Hochglanzpapier das erste wirklich interaktive Buch. Man wird es liken und Kommentare hineinschreiben können wie in einem richtigen Blog! Fantastisch.

Okay, Freunde. Wir treffen uns am 10. Oktober, Punkt 8 Uhr vor der Halle 4.2. Codewort: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!“ Alles weitere vor Ort (Schampus steht bereit!).