Wege des Herzens

Was stand da? Tom kramte seine Lesebrille aus der Jackentasche. „Wandle stets auf den Wegen des Herzens“. Ein Teebeutelspruch. Nun, davon konnte man wohl kaum sterben. Er saß nach durchraster Nacht in diesem Caféhaus in Düsseldorf oder war es Duisburg? Egal.

Schätzchen! Jetzt brauch‘ ich noch einen Espresso. Einen doppelten, bitte.

Kunststudentin Elfriede, im Nebenamt Caféhausbedienung, nickte und dachte: alter Penner. Und: Ob der wohl solvent ist? Schließlich hatte er schon ein Existenzialistenfrühstück, einen ayurvedischen Tee mit Ingwerundlimettengeschmack und zwei Stück Herrentorte verschlungen. Sie knallte ihm den Espresso auf den Tisch und räumte den Weg des Herzens ab.

Toms Blick schweifte durch den Orchideenwald im Fenster nach draußen auf seinen ziemlich zerbeulten schwarzen Alfa Romeo Spider. Wie in einem mittelprächtigen Roadmovie stand sein offenes Cabrio direkt vor dem Lokal, wenn auch im Parkverbot. Da gab es keine Kompromisse. Natürlich regnete es in Strömen. Doch auch das war jetzt egal. Der Espresso war mies. Das war nicht egal. Am Nebentisch schrien Mutter und Kleinkind um die Wette.

Die Beulen im schwarzen Blech? Ja, das lief grad in einer Endlosschlaufe im Qualitätssender: Wie er Bleifuß gab vor dem Kölner Dom, Phorky in seinem Chevrolet Camaro SS dicht auf den Felgen und dann die große Treppe hinunter. Der tiefer gelegte Camaro rotzte auf den Stufen funkensprühend Blech, Kotblech. Holly warf durch die längst zerschossene Heckscheibe mit schwarzen Go-Steinen um sich.

Nur schwarze Steine! Phorky bestand darauf. Toms Spider heulte auf, die Menschen auf der Treppe zerstoben schreiend in alle Richtungen. Tom sah sich nun auf dieser verwackelten Handycam-Aufnahme einer mexikanischen Touristin in wilder Fahrt auf Phorkys Camaro schießend. Doch der Killer entkam, wie durch ein Wunder. Und in Köln gab es – noch ein Wunder – keine Opfer zu beklagen.

Dazu der TV-Kommentar. Noch nie habe die Republik seit Ende des Weltkriegs so ein Grauen erlebt. Sie trug schwarz oder halbmast, die Republik, hörte sehr schwere Musik, vorzugsweise Mahler. Analysen, klare Argumente, warum das geschehen konnte, und warum gerade jetzt: Die Feuilletonseiten waren voll davon; begannen mit: das Unbegreifliche, das Undenkbare, das Unerhörte, das Unaussprechliche. Die Vorsilbe Un- hatte Hochkonjunktur. Wie ein Schriftsteller zum Massenmörder werden konnte. Ob es an seiner Schreibe lag; war es da schon angelegt im Keim oder in der DNA? Sein bislang mageres Werk wurde zerlegt und obduziert von Sprachgelehrten und -besoffenen. Der Boulevard feierte seinen Heimsieg. Ein Extrablatt jagte das nächste. Der Bundespräsident übte die Trauerrede für die Hinterbliebenen.

Ich stell mal um, sagte Schätzchen Elfriede und dann lief ein Spiel der 2. Bundesliga.

Tom ging die Meldungen der letzten Stunden nochmals in Gedanken durch. Ein Verdacht machte sich in seinen müden Hirnwindungen breit. Das Mädchen, dessen Name nirgends in den Medien auftauchte, das behauptete, Phorky schreibe die Menschen einfach tot, war es nicht Holly? Die kleine, blasse Fuffzehnjährige mit den Sommersprossen im Gesicht? Holly, die einfach die Seiten gewechselt hatte?

Holly, auf die ein Wood vergeblich gewartet hatte, die ein Castingstar werden wollte?

Um 11 Uhr war eine Pressekonferenz mit Ermittlungsergebnissen angesagt. Kommissar Kattaun würde wohl die Identität dieses Mädchens preisgeben. Mehr hatte er nicht, abgesehen von ein paar schwarzen Go-Steinen.